Das neue Jahr ist da, Herr Alltag hat mich wieder. Und ich hatte wirklich Elan, ich schwöre! Nach drei Wochen ausgiebigst genossener Winterpause auch nicht unbedingt völlig erstaunlich, doch der aktuelle Auftrag, bestehend aus einem stichpunktartigen Ellenlang-Leistungsmerkmalkatalog zu einer E-Learning-Software, zeigte schon nach gefühlt der ersten halben Stunde, dass er sich höchst blendend exakt für eine Sache eignete: meinen Schaffensdrang wieder dorthin zu befördern, wo er die letzten drei Wochen vor sich hin geruht hatte.
Immer wieder in die Küche schleichen, nach was Essbarem suchen und sich mit der Zeitung auf das Sofa setzen, liegt mir seit Tagen also sehr nah. Lustlos im „Mäh, ich will nicht“-Weigerungssumpf dümpelnd lange ich mir ein altes ZEIT-Magazin aus dem sofanahen Rollkasten und blättere darin. Und lese: „Mitten in der Krise macht sich in Athen die nächste Generation auf, ihre Stadt neu zu erfinden.“
In modern-volatilen Zeiten, in denen die Halbwertszeit von allem und jedem immer mehr schrumpft und ein bestimmtes Prozedere schon beim zweiten oder dritten Mal zur „guten Tradition“ erklärt wird, liest man inzwischen immer wieder etwas davon, dass man sich selbst neu erfinden müsse. Wer sich aber selbst nicht neu erfinden mag, kann ersatzweise auch „etwas neu erfinden“ – zum Beispiel eben Athen.
Substanz oder Seifenblase?
„Wenn es x nicht gäbe, müsste man es erfinden“ – ok, da bin ich dabei. Bei mir ist das E-Mail. Gäbe es E-Mail nicht, ich fände, irgendein Genius müsste das stante pede ersinnen. Aber: Warum zum Henker muss man etwas neu erfinden? Ich meine, wenn es die betreffende Sache doch längst schon gibt? So wie eben Athen, das bekanntermaßen schon eine ziemlich lange Tradition (!) hat. Kann es nicht reichen, Sachen, Städte oder sich selbst zu ändern, neu zu gestalten? Auf dass dies alles im besten Fall schöner, größer, schneller oder auf andere Weise wertvoller werden möge? Oder ersatzweise kleiner, feiner, ausgefeilter, whatever?
Neuerfinden klingt wohl einfach staatstragender als ändern und gestalten. Man liest erfinden und denkt sofort: Hey, das ist kreativ! Und kreativ ist schließlich gut. Und siehe da, es geht auch bei der Neuerfinderei von Athen ums Kreative. Die „Kreativen“ (auch so ein Seifenblasenwörtchen) sind gekommen, Athen neu zu erfinden, lese ich da (vermutlich von Berlin her, denn das haben sie die ganzen letzten Jahre über neu erfunden, das Projekt ist jetzt aber wohl abgeschlossen. In Kürze wird man möglicherweise lesen, dass Athen das neue Berlin sei oder so. Arm, aber genauso sexy).
Kreativ = Genial?
Aber der simple künstlerische Anspruch auf Kreativität hat sich längst gewandelt in einen volksweit gestreuten Selbst- und Fremdanspruch, kreativ sein zu müssen. Von Kindesbeinen an ist das vom modernen Menschen gefordert, spätestens ab dem Kindergarten. Wer da nicht liefert, verbaut sich mindestens Entwicklungschancen für sein künftiges Leben, geht am Ende völlig unter.
Gibt man „kreativ“ im Internet ein, spuckt Google Suggest an dritter Stelle „Kreativitätstechniken“ aus (kleine Randnotiz: Gebe ich „sich“ in die Suchmaske ein, ist der erste Treffer … ihr ahnt es … „sich neu erfinden“). Ich werde nachdenklich … Wikipedia sagt zu Kreativitätstechniken: „Kreativitätstechniken sind Methoden zur Förderung von Kreativität und gezieltem Erzeugen neuer Ideen, um Visionen zu entwickeln oder Probleme zu lösen.“ Mind Mapping, Clustering, Brainstorming: Naja, das kenne ich. Weiter unten lese ich von Dingen wie Kopfstandtechnik, Provokationstechnik und Bisoziation. Ich kann mir nur unter dem ersten etwas vorstellen (bin aber nicht sicher, ob ich damit richtig liege) und beginne zu ahnen, an welchen Universen der Möglichkeiten ich tagtäglich fröhlich-naiv-ignorant vorbeischrappe, wenn ich einfach nur schlicht faul darauf warte, dass mir ganz klassisch Ideen kommen.
Wer wollte nicht Daniel Düsentrieb sein? Der hatte sein Pling!-Licht-an-Glühbirnenhelferlein fürs Erfinden. Aber neu erfunden hat der Gute meiner Erinnerung nach nie etwas. Ich glaube auch nicht, dass er das nötig hatte. Erfinden ist genial, Neuerfinden bestenfalls … kreativ. Der Genius geistesblitzt, das niedere Fußvolk geht sich halt neu erfinden – und sieht sich durch diesen Begriff in den Dunstkreis der Genialität gerückt.
Womit ich meine heute bei der Arbeit nicht wirklich geforderte und darob recht schwach funzelnde Kreativen-Glühbirne jetzt löschen gehe: mit einer in gänzlich un-neu-erfundener Brühtechnik zubereiteten Tasse Darjeeling …