Neulich fand ich eine Anfrage eines potenziellen Neukunden im E-Mail-Eingang. Das Angebot klang verlockend, eines meiner Lieblingsgebiete. Gut 5700 Zeilen, 15 Arbeitstage waren anberaumt. Ich zückte den Taschenrechner und kam auf 385 Zeilen pro Tag. Pro Stunde ( ich ging mal grob von sieben Arbeitsstunden pro Tag aus) waren das also 55 Zeilen. Eine vage Ahnung, dass da was vielleicht nicht hinhauen könnte, hatte der Anfragende wohl auch, denn er sprach von einem „sportlichen Abgabetermin“. Sportlich? Ich persönlich hätte gesagt: unmöglich, eigentlich gar nicht zu schaffen.
Vielleicht kennen Sie das magische Dreieck des Projektmanagements? Seine Kernaussage lautet: „Ich kann gut, ich kann günstig, ich kann schnell, lieber Kunde. Wähle jeweils zwei davon.“
Dann kommt heraus:
günstig und gut = langsam
günstig und schnell = schlecht
schnell und gut = teuer
So einfach, so klar, und viele Auftraggeber (zumindest meine) haben das längst begriffen. Eine Einschränkung zur letzten Variante –schnell und gut – hätte ich aber: Auch wenn Sie als kluger Kunde noch so viel Geld in die Hand nähmen, das Übersetzen und Texten könnten Sie auf diesem Weg nicht beliebig beschleunigen. Eine Übersetzerin ist ja keine Maschine, und Schreiben mit Hand und Fuß ist eine komplexe und anstrengende Geistesarbeit, die immer wieder Pausen erfordert.
Ab in den GarschrankGärschrank!
Texte sind wie Brotteig, der ruhen und garen muss. Da braucht es also vor allem eines: Zeit. Zeit, in der rein äußerlich gar nichts geschieht. Doch das täuscht, denn in so einem Brotteig geht ja richtig die Post ab, wie wir wissen. In etwa so ist es auch beim Übersetzen. Es mag Kollegen geben, die einen Ausgangstext, einmal verstanden und durchstiegen, auf Anhieb druckreif in eine andere Sprache befördern. Ich persönlich kenne keinen und gehöre selbst auch nicht zu dieser (beneidenswerten) Spezies. Bei mir geht das so:
Schritt 1: Ausgangstext lesen.
Schritt 2: Übersetzung „reinhauen“. So, wie es gerade kommt, quick and dirty. Fällt mir gleich etwas Griffiges ein, wird es natürlich hingeschrieben, fällt mir nichts Derartiges ein, schreibe ich etwas hin, was den Sinn, wenn auch auf umständliche, unelegante oder sonstwie unrunde Weise so weit wie möglich wiedergibt. (Noch jedes Mal denke ich bei diesem Arbeitsschritt: „Wenn jetzt bloß keiner reinkommt und dir über die Schulter guckt …“ Nein, schön, rund und griffig klingt das beileibe nicht, was ich dann da in der Regel erst mal stehen habe. Aber, so what, sieht ja keiner … <pfeif>.)
Schritt 3: Unklare Stellen recherchieren. Alles, was sich mir in dieser Phase bereitwillig vor die Füße wirft, wird schon mal inhaltlich und stilistisch zurechtgezupft. Der (meist große) Rest muss eben warten auf …
Schritt 4: Ab in den Garschrank! Wenn möglich, einen halben Tag, besser noch über Nacht. Ganz Mutige werfen den Teig gleich nach Quick-and-dirty-Phase 1 in den Garschrank.
Schritt 5: Rausholen und formen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut das geht, wenn man erst mal ein paar Stunden oder eine Nacht Abstand davon hatte. Ich weiß nicht, wie, ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, dass es funktioniert.
Schade, dass es so vielen im Geschäftsleben grade beim Thema Text so pressiert: Immer muss alles schnell-schnell und „asap“ gehen. Kein Wunder, wenn die Zahl halbgarer Texte zunimmt: Davon kann auch ich als Übersetzerin ein Lied singen, denn Etliches davon landet auf meinem Schreibtisch. Gut, wenn ich mir dann selbst die Zeit nehmen kann, wenigstens das, was ich in meiner Muttersprache draus mache, ordentlich zu machen.
Möchten Sie die Chancen steigern, eine gute Übersetzung zu erhalten? Dann rechnen Sie bei der Planung von Abgabeterminen ausreichend Zeit für den Garschrank ein!